Behördenversagen: Wenn Kinder nicht angemessen geschützt werden
Immer wieder liest man von Fällen, in denen Behörden zu spät bei Kindeswohlgefährdungen eingreifen oder Meldungen ignorieren. Das belegt nun auch eine Studie. Was ist Kindeswohlgefährdung konkret und wie können Privatpersonen helfen?
Im Februar 2024 ging in Österreich ein erschütternder Fall durch die Medien: Eine Mutter soll mithilfe einer Freundin ihren Sohn gequält haben, indem sie den damals Zwölfjährigen immer wieder in eine Hundebox einsperrte und bei geöffnetem Fenster kaltes Wasser über ihn goss. Trotz zwei Hausbesuchen von Sozialarbeiter*innen der niederösterreichischen Kinder- und Jugendhilfe, in denen die Situation als “auffällig” bezeichnet und Gefährdungsmeldungen von Ärzten und der Schule eingereicht wurden, schritten die zuständigen Mitarbeiter*innen nicht ein. Schließlich rettete eine Sozialarbeiterin das Kind, als sie es in einem “lebensbedrohlichen, komatösen Zustand” mit einer Körpertemperatur von 27 Grad vorfand.
Auch in Deutschland kommt es immer wieder zu Fällen, in denen Kindern zu spät von Behörden und Jugendämtern geholfen wurde. So beispielsweise der Fall eines Zweijährigen aus Bopfingen, der von dem Lebensgefährten seiner Mutter misshandelt wurde und schließlich starb. Trotz Auffälligkeiten, die anschließend vom Jugendamt, dem Kinderarzt, Familien und Freunden benannt wurden, schritt niemand ein.
Doch nicht immer sind die Eltern der direkte Auslöser, manchmal wird auch stark benötigte staatliche Hilfe nicht genehmigt. So war in Hamburg ein 19-jähriger Rollstuhlfahrer wegen fehlender Barrierefreiheit der Wohnung drei Jahre in seinem Zimmer eingesperrt. Obwohl Sozialarbeiter*innen den Fall meldeten, wurde auch hier nichts unternommen, um die Situation des jungen Mannes zu verbessern.
Meldungen zu Kindeswohlgefährdung werden nicht ausreichend bearbeitet
2022 erreichte die Kindeswohlgefährdung in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamts mit 62.300 Fällen einen neuen Höchststand. Hinzu kamen 101 Tötungsdelikte an Kindern, denen nicht zwangsläufig eine bekanntgewordene Kindeswohlgefährdung vorausging. Eine im Juni veröffentlichte Studie von Transparency International Deutschland und SOS-Kinderdörfern zeigte, dass Ämter und Behörden häufig nicht angemessen auf Meldungen zu Kindeswohlgefährdungen reagieren. Zwei Drittel der 140 befragten Jugendämter gaben demnach an, dass Personalmangel sie häufig an zeitnahen Reaktionen auf Hinweise bezüglich Kindeswohlgefährdung hindere. Gut die Hälfte der Behörden wiesen online auf Meldewege hin, nur ein Drittel nannte eine Ansprechperson für Hinweisgeber. Auch die Begriffe „Kindeswohlgefährdung“ oder „Kindesmissbrauch“ scheinen für Laien nicht ausreichend erklärt zu werden. Nicht einmal die Hälfte aller Jugendämter erklärt konkret, was damit gemeint ist und welches Verhalten gemeldet werden soll. In Bezug auf sexuellen Missbrauch informiert sogar nur jedes vierte Amt. Außerdem variiert laut der Studie die wahrgenommene Qualität in der Einschätzung von Fällen und Bearbeitung durch „insoweit erfahrene Fachkräfte“ innerhalb der Jugendämter und anderen Einrichtungen stark. Der Gesetzgeber müsse an deren Qualifikation nachbessern, so Studienleiter Sebastian Oelrich. „Es kann nicht sein, dass sich beispielsweise Kindergärten allein auf Beratungen von Personen berufen können, die wenig praktische Erfahrung mit Kindeswohlgefährdung haben.“

Behördenversagen
Was fällt unter Kindeswohlgefährdung?
Kindeswohlgefährdung hat viele unterschiedliche Erscheinungsformen. Sie kann sich sowohl durch Unterlassen als auch durch ein bestimmtes Verhalten auszeichnen. Zudem kann sowohl bewusstes als auch unbewusstes Handeln als Kindeswohlgefährdung gelten. Konkret fallen unter den Begriff Vernachlässigung, Erziehungsgewalt und Misshandlung, häusliche Gewalt und weibliche Genitalverstümmelung, die häufig auch als Beschneidung bezeichnet wird.
Diese Taten können wiederum jeweils in unterschiedlichen Formen auftreten:
Körperliche Vernachlässigung meint die unzureichende Versorgung mit Nahrung, Flüssigkeit, witterungsangemessener Kleidung, mangelhafte Hygiene oder medizinischer Versorgung sowie unzureichende Wohnverhältnisse. Erzieherische und kognitive Vernachlässigung umfasst fehlende Kommunikation, erzieherische Einflussnahmen sowie fehlende Anregung zu Spiel und Leistung.
Bei emotionaler Vernachlässigung handelt es sich um einen Mangel an Wärme, Geborgenheit und Wertschätzung. Eine unzureichende Aufsicht liegt dann vor, wenn das Kind innerhalb und außerhalb des Wohnraums häufig alleingelassen wird und die Eltern oder Erziehungsberechtigten nicht darauf reagieren, wenn ihr Kind unangekündigt abwesend ist.
Der Kinderschutzbund NRW stuft Vernachlässigung aufgrund vielfältiger Lebensstile als schwer zu fassenden Faktor ein. In einem solchen Verdacht empfiehlt sich die anonymisierte Beratung mit einer der oben genannten Beratungsstellen.
Als Erziehungsgewalt versteht man sowohl leichte physische als auch psychische Gewalt an einem Kind. Sie sind erzieherisch motiviert und haben wohl einen kurzfristigen körperlichen oder seelischen Schmerz, nicht aber die Schädigung oder Verletzung des Kindes zum Ziel.
Unter körperliche Erziehungsgewalt fallen beispielsweise leichte Ohrfeigen oder hartes Anpacken des Kindes. Körperliche Misshandlung sind Tritte, Stöße, Stiche, das Schlagen mit Gegenständen, Vergiftungen, Einklemmen oder das Schütteln, insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern gemeint. Psychische Gewalt hat dagegen viele Erscheinungsformen, die dem Kind vermitteln, es sei wertlos oder nicht liebenswert. Dies kann als Isolierung, Ablehnung oder Terrorisierung mit Androhungen geschehen. Aber auch, das Kind in selbstzerstörerisches oder strafbares Verhalten oder in die Rolle des Ersatzes für eine erwachsene Person zu drängen.
Zu sexualisierter Gewalt zählt der Kinderschutzbund physische sexualisierte Gewalt, psychische sexualisierte Gewalt, Missbrauchsdarstellungen, Kinderprostitution, sexualisierte Gewalt im Internet, Cybergrooming und Sexting. Wie Kinder sicher im Netz unterwegs sind, darüber klärt das Sicher-Stark-Team ebenfalls auf seinem Blog auf. Häusliche Gewalt dagegen bezeichnet Gewalt zwischen Erwachsenen, also beispielsweise den Eltern. Auch wenn das Kind selbst keine direkte Gewalt erfährt, leidet das Kind darunter zu sehen, wie ein Familienmitglied misshandelt wird.
Was tun, wenn Sie Kindeswohlgefährdung vermuten?
Trotz der mehr als fragwürdigen Studien-Ergebnisse sollten sich engagierte Menschen nicht entmutigen lassen. Wenn Sie eine Kindeswohlgefährdung in ihrem Bekanntenkreis oder der Nachbarschaft wahrnehmen, sollten Sie sich dennoch auf jeden Fall an Fachkräfte wenden. Ansprechpartner dafür sind die Ortsverbände des Deutschen Kinderschutzbundes, Erziehungsberatungsstellen, Beratungsstellen des Kinderschutzbundes und das örtliche Jugendamt. Für eine erste Einschätzung empfiehlt der Kinderschutzbund NRW eine anonymisierte Beratung.
Sobald Sie Namen nennen, muss das Jugendamt tätig werden und dem Hinweis nachgehen. Auch wenn es schwerfällt, sollten Sie nicht übereilt handeln, vorausgesetzt, Sie gehen nicht von einer akuten Notlage aus.
Wenn Sie den Eindruck haben, dass das Kind sofort Hilfe benötigt, wenden Sie sich an die Polizei oder das örtliche Jugendamt. Wenn Sie das Kind direkt ansprechen möchten, sollten Sie es nicht bedrängen. Auch wenn es aus ihrer Sicht in einer gefährlichen Situation steckt, hat sich das Kind eigene Verteidigungsmechanismen angeeignet, die womöglich die Täter*innen schützen sollen. Stehen Sie dem Kind als Vertrauensperson zur Verfügung und signalisieren Sie ihm, dass es sich an Sie wenden kann.
Ein Gespräch mit dem Täter oder der Täterin sollten sie niemals allein eingehen. Sie könnten gewalttätig auf Sie reagieren oder als Folge die Gewalt gegenüber dem Kind verschärfen, es bedrohen, einschüchtern oder ein Kontaktverbot zu Ihnen oder anderen aussprechen. Zudem ist es unwahrscheinlich, dass der beschuldigte Erwachsene seine Gewalttätigkeit zugibt.
Weitere Informationen gibt es auf der Homepage der Bundesgeschäftsstelle.
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